Herr Hegenbarth zeigt

Blick in die Ausstellung Damenwahl, Hegenbarth Sammlung Berlin 2024

Damenwahl

24. Januar — 21. März 2024

Ort:

Hegenbarth Sammlung Berlin
Laubacher Straße 38
14197 Berlin

Überlegungen zur Bildauswahl

Im Zentrum der aktuellen Bilderschau präsentieren wir einen unserer jüngsten Neuzugänge: Doris Zieglers Gemälde ‚Ich bin du‘ aus dem Jahr 1988.

Auf dem großformatigen quadratischen Gemälde sind zwei ganzfigurige Akte zu sehen, die einander an der Hand halten. Auffällig ist, dass beide die Gesichtszüge der damals 39jährigen Künstlerin tragen. Jedoch hat sich Ziegler hier nicht als realistischen Doppelakt gemalt, sondern sie schlüpft in der rechten Figur in die Rolle eines Mannes, der seinen Arm nach links ausgestreckt hat, um die Hand der weiblichen Aktfigur zu empfangen. Beide Figuren sitzen auf dem Fensterbrett vor einem raumgroßen Fenster, durch das man nach draußen auf eine Straßenflucht mit dicht bebauten Häuserzeilen zu beiden Seiten blicken kann. Die beiden Akte wenden sich dem Betrachter mit freundlichen, ansonsten aber mit fast regungslosen Gesichtern zu.
Verrätselt wirkt das Doppelporträt, das zu ihren Hauptwerken und dem so genannten Passage-Zyklus der in Leipzig tätigen Malerin gehört. Warum hat sie sich gleich doppelt, aber mit unterschiedlicher Geschlechterzuweisung dargestellt? Was bedeutet dieses Rollenspiel, der sich bereits im Bildtitel ‚Ich bin du‘ andeutet? Im Kontext der jüngsten Ausstellungen, in denen der Fokus auf Künstlerinnen und weiblichen Aktdarstellungen liegt (u. a. Heidelberg 2021, Emden 2023, Hamburg 2023), überrascht, dass Künstlerinnen der DDR und nach 1990 aus dem ostdeutschen Raum in den durchaus breit angelegten kunsthistorischen Untersuchungen stets ausgeblendet und vernachlässigt werden. Diese Fehlstelle möchte die Hegenbarth Sammlung gerne beheben. Einen ersten wissenschaftlicher Aufsatz über Doris Ziegler verfasste die Kunsthistorikerin Dr. Ulrike Göschen im Auftrag der Hegenbarth Sammlung. Als wichtigste Vertreterin der Leipziger Schule ist Doris Ziegler (*1949) 2023 mit dem Max-Pechstein-Preis ausgezeichnet, ihre Werke sind gleich in drei aufeinanderfolgenden Einzelausstellungen (Kunstmuseum Moritzburg Halle, Kunstsammlungen Gera und Zwickau) umfangreich ausgestellt und wiederentdeckt worden (siehe Depeschen Nr. 95 und Nr. 102). Die Bedeutung der Werke Doris Zieglers im Kontext der deutschen Kunstentwicklung und für den Sammlungskontext der Hegenbarth Sammlung Berlin wird uns weiterhin beschäftigen — wir halten Sie auf dem Laufenden.

Wir haben erneut die Schubladen geöffnet und Doris Zieglers ‚Ich bin du‘ Gefährtinnen an die Seite gestellt: Die Aquarellzeichnung von Otto Dix (1891—1969) zeigt eine ‚Liegende‘ (1924), die ihren Kopf auf den Arm und einen Stapel bunter Kissen gebettet hat. Vor 100 Jahren entstanden ist das Blatt farbfrisch und motivisch für den Künstler unerwartet überraschend. Kokett schaut sie den Betrachter aus einem ungewohnten Blickwinkel an.
Dagegen wirkt die Aristokratin ‚Eleonore Freifrau von Welden‘ (1819) von Joseph Nicolaus Peroux (1771—1849) geradezu selbstsicher porträtiert. In einer zarten lavierten Bleistift- und Federzeichnung hat er jedes kleinste Detail der kindlichen Freifrau vor einer Wolkenkulisse dargestellt.
Von Josef Hegenbarth (1884—1962) haben wir zwei Frauenporträts aus den 1930er Jahren ausgewählt: ‚Aufgestützter Frauenkopf‘ (1932) zeigt ein junges, sehr zeitgenössisch anmutendes Mädchen, die sehr verträumt aus dem Bild herausschaut und ihren Kopf auf die Hände gestützt hat. Die ‚Sitzende Frau‘ (1938) hingegen schaut uns mit festem Blick an. Trotz ihres Alters und ihrer Erfahrungen hat der Künstler sie sehr würdevoll in gerader Haltung auf dem angedeuteten Stuhl festgehalten.
Die Arbeiten von Rudolf Schlichter (1890—1955) und Hanna Nagel (1907—1975), einer zeitweiligen Schülerin von Hegenbarth, stammen aus dem Jahr 1930: Er hat ein ‚Dienstmädchen‘, sie ein Gruppenbildnis dargestellt. Die Figuren und Darstellungsweise könnten trotz der zeitlichen Verwandtschaft unterschiedlicher nicht sein.

Fast zeitlos wirkt dagegen Cornelia Schleimes (*1953) Aquarellzeichnung ‚Krankes Kind‘ (1999), das weniger kränklich als vielmehr ätherisch dem Betrachter auf Augenhöhe gegenübergestellt wird. Die verschwommenen Umrisse des Kindes deuten ein Sich-Auflösen der Figur an, das bei Isa Genzken (*1948) bereits vollständig eingetreten ist: Ausgehend vom Figürlichen sind in ihrer unbetitelten Aquarellzeichnung (1985) lediglich Figurfragmente übriggeblieben, die die Gestalt von architektonischen Körpern angenommen haben und von der Künstlerin monochrom vor einem grauen Hintergrund auf das Papier gesetzt wurden.

Bereits in den 1930er Jahren hat Ernst Wilhelm Nay (1902—1968) in seinem Farbholzschnitt ‚Zwei Badende im Bergsee‘ (1938) die Figuren maximal abstrahiert und Teil der norwegischen Lofotenlandschaft werden lassen, mit der sich der Künstler auf Einladung von Edvard Munch 1937 und 1938 auseinandersetzte. Zum Vergleich sind die beiden Badenden, als ob sie Reinkarnationen Adam und Evas oder antiker Mythengestalten wären, dem 50 Jahre jüngeren ‚Ich bin du‘ Doris Zieglers  gegenüber angebracht. 

Vor dem Schaudepot wird der Besucher von einer surreal anmutenden ‚Frauenfigur‘ (1929) von Heinrich Hoerle (1895—1936) empfangen. Der Titel ist allerdings irreführend, denn von der besagten Frau sind lediglich das Gesicht, das den Betrachter wissend oder warnend anschaut, und der männlich kurzgeschorene Hinterkopf zu sehen. dieses janusköpfige Monument ragt über einem Gebäudesockel aus einer kargen Landschaftsebene auf. Geheimnisvoll hält es sein Wissen vor dem Betrachter verborgen.

Gegenüber befindet sich die großformatige Briefmarkencollage von Thomas Baumhekel (*1963) ‚In der DDR können auch Frauen Minister werden (Hannah Arendt)‘ (2020) aus der Serie ‚Japanisch Grundkurs‘. Mit dem Zeichenstift kartiert er die Plattenbau-Typen seiner Heimatstadt Dresden. In deren Wandfelder, die für die dahinter liegenden Wohnungen stehen, klebt er als Andeutung der Fenster gesammelte Briefmarken. Sie zeigen Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Sport und Gesellschaft beider deutschen Staaten. Obwohl die einzelnen Protagonisten erkennbar und in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung einzuordnen sind, bleiben sie in ihren Fensternischen isoliert.

Worin liegt das Verbindende der Damen, Frauen und Mädchen unterschiedlichen Alters und Herkunft? Spielen der zeitliche Hintergrund oder gar die Herkunft der Künstlerinnen und Künstler eine nicht zu unterschätzende Rolle für das Bildverständnis? Und stellen Künstlerinnen und Künstler weibliche Figuren unterschiedlich dar?

Zu entdecken und zu beantworten immer mittwochs von 12 bis 17 Uhr, wir freuen uns auf Ihren Besuch!

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