Hegenbarth Depesche N°95 — ICH bin DU! WHO is WHO?
24. Februar 2023
Doris Ziegler, Passage II. Hommage à Watteau, 1988, Eitempera, Öl auf Hartfaser, 155 × 170 cm, Hegenbarth Sammlung Berlin, Foto: Atelier Doris Ziegler, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde von Herrn Hegenbarth,
unter etlichen Themenstellungen, die sich mit der Schaffenszeit Josef Hegenbarths verknüpfen lassen, stechen die historisch bedeutsamen Wendezeiten — es sind deren mindestens vier bis zu seinem Lebensende im Jahr 1962 — besonders hervor. Aus diesem Blickwinkel interessieren wir uns in der Hegenbarth Sammlung Berlin generell dafür, wie sich Umbruchsituationen im Werk von Künstlerinnen und Künstlern sowohl in älteren als auch in jüngeren Epochen abzeichnen. Unsere erste Empfehlung ›ICH bin DU! Doris Ziegler: Malerei‹ führt Sie zurück in die Endphase der DDR und wiederum ›zurück in die Zukunft‹. — Als weitere Empfehlungen folgen unten eine Besprechung zur Druckgrafik von Dieter Roth und ein Veranstaltunsghinweis in eigener Sache.
Aus heutiger Sicht scheint es so, als habe Doris Ziegler das bevorstehende Beben vorausgeträumt. In ihren Wende-Bildern ist diese Stimmung nicht plakativ wie in den sattsam bekannten Fotoaufnahmen eingefangen, die das spontane Geschehen an der geöffneten Mauer zeigen. Im Gegensatz dazu evozieren Zieglers Bildprojektionen auf der Netzhaut langanhaltende Nachbilder. Sie speisen sich aus der Anverwandlung historischer Figurationen und deren multiplen Aufspaltungen. Diese Versatzstücke treffen heute den Nerv eines pluralistischen Emanzipationsdrangs, der in Bezug auf Geschlechtsidentität, Diversität und deren Ausdeutungen in Resonanz mit Doris Zieglers Figurationen zu geraten scheint; vor dem Hintergrund der kollektiven Unzufriedenheit in der DDR der späten 1980er Jahre sind sie als Sinnbilder individueller Freiräume zu lesen. Ein Bedarf, für die Beantwortung aktueller Fragestellungen kunstgeschichtliche Vorbilder zu finden, ergibt sich zu allen Zeiten. Daran erweist sich die Aktualität des Vorangegangenen. Wir erinnern uns erst wieder daran, wenn die in Bildformeln gespeicherten energetischen Potenziale zurückliegender Generationen uns in der Gegenwart berühren. Doris Ziegler weiß darum, dass der Sinn der metamorphotischen Bildprojektion nicht auf Eindeutigkeit, sondern auf die Ambivalenzen des Übergangs abzielt. Allein mit dem Wissen um die Zwischentöne ist gegen die Zeitläufe wenig auszurichten, gleichwohl vermag es uns zu differenzierteren Betrachtungen und zu einem tieferen Verständnis unserer selbst zu verhelfen: Who is who? Wer oder was ruft welche Erinnerung auf den Plan?
Am Start in Halle
ICH bin DU!
Malerei von Doris Ziegler
Mit zwei herausragenden Leihgaben ist die Hegenbarth Sammlung Berlin an der Einzelschau ›ICH bin DU! Doris Ziegler: Malerei‹ beteiligt, die am Samstag in Halle startet. Die großformatigen Gemälde Passage I und Passage II. Hommage à Watteau bildeten den Auftakt zu ihrem monumentalem Passagenzyklus, den die 1949 in Weimar geborene und in Leipzig ansässige Künstlerin zwischen 1988 und 1993 sukzessive fertigstellte.
Ins Zentrum unserer beiden Historienbilder versetzt die Künstlerin jeweils die ebenso populäre wie rätselhafte Figurenschöpfung des zufriedenen Pierrots im Kreise seiner Freunde aus einem Gemälde von Antoine Watteau (Pierrot content, 1712). Zu dessen Zeit etablierte sich die Pierrotfigur als stumme Rolle, die gestisch zu bedeuten hatte, was nicht gesagt werden durfte. Bei ihrer Zeitreise — ebenfalls eine Passage — haben sich die Watteauschen Figuren in Zieglersche verwandelt: haben die Rollen getauscht, die Geschlechter gewechselt, den Look der 80er Jahre angenommen. Der Umstand, dass sie in die Leipziger Stadtlandschaften der Wendezeit eingewandert sind, verknüpft Geschichte und Gegenwart wie zugleich individuelle und gemeinschaftliche Geschicke. Er lässt Doris Zieglers geträumte Passagen als Sinnbilder der Wandelwirklichkeit begreifen. Den mitreisenden Motiv- und Sinnpartikeln darf man in Halle bis 21.5.2023 nachspüren. Im Rahmen der Vernissage am 25. Februar findet um 20.30 Uhr in der Ausstellung ein öffentliches Gespräch mit der Künstlerin statt.
Nach der Rückkehr der Werke bieten wir in der Hegenbarth Sammlung Berlin die Möglichkeit zu Bildvergleichen mit passenden Papierarbeiten (Straßenszenen, Clownereien und literarischen Zeichnungen) von Max Ackermann, George Grosz, Josef Hegenbarth, Walter Stöhrer und anderen.
26.2.—21.5.2023
Eröffnung am 25. Februar um 20.30
Kunstmuseum Moritzburg Halle
Kulturstiftung Sachsen-Anhalt
www.kunstmuseum-moritzburg.de
Publikation
Doris Ziegler. Das Passagenwerk. Malerei. Monografie mit dem Werkverzeichnis der Gemälde (1970—2020). Hg. v. Paul Kaiser, Dresdener Institut für Kulturstudien. Weimar, 2020. (ISBN: 978-3-00-066335-2, während der Ausstellung im Museum 33 €)
Am Ende in Hamburg
Gepresst, gedrückt, gequetscht.
Material- und Druckgraphik von Dieter Roth
Unbedingt sehenswert ist die Ausstellung der Material- und Druckgraphik von Dieter Roth in Hamburg, die an diesem Wochenende vorzeitig endet. Wer den Besuch der Ausstellung in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg im Laufe des März eingeplant hat, sollte die letzte Gelegenheit zur Besichtigung am 25. und 26. Februar 2023 nicht verpassen.
Die Zusammenschau von rund 1000 Einzelblättern, Serien- und Editionsobjekten widerlegt die landläufige Auffassung, Dieter Roth sei ein notorischer Bürgerschreck und Antikünstler gewesen. Der Künstler wurde 1930 in Hannover geboren und ist 1998 in Basel gestorben). Die Kompliziertheiten des Druckens stellten für Roth, der ein ausgebildeter Gebrauchsgrafiker, begnadeter Zeichner und kühner Bildkonstrukteur war, keine Hürde dar — im Gegenteil: Er nutzte sie als kombinatorisches System, dem er sich in einem lebenslänglichen Werkprozess planmäßig mit Haut und Haar, mit Käse und Schokolade und mit geistreichen Zitaten in Wort und Bild verschrieb.
In dieser fulminanten Ausstellung gleicht das druckgrafische Werk von Dieter Roth einem barocken Welttheater, aus dem man hoch energetisiert und scharfsichtiger, als man es betreten hat, hervorgeht.
Nur noch am 25. und 26.2.2023
Sammlung Falckenberg (Hamburg-Harburg)
Informationen zum Besuch
Im Hinterkopf bei Herrn Hegenbarth
Ethnologisches Kunstgespräch
in der Hegenbarth Sammlung Berlin
Save the Date: Schaudepot als Probebühne
Mittwoch, 22. März 2023, 19 Uhr
Letzter Tag der Kabinettpräsentation Stofflicht
Zusammenstellung oder Gegenüberstellung?
Impulse für die zeitgemäße Präsentation und Vermittlung von Kunstgegenständen aus unterschiedlichen Ländern
Diskussionsrunde mit
Katrin Müller de Gámez (Ethnologin/Altamerikanistin, Kuratorin)
Katja Schöppe-Carstensen (Kunsthistorikerin)
Razi Hejazian (Kulturanthropologe, Kunsthistoriker, Experte für vorderasiatische Webkunst)
Christopher Breu (Sammler)
Einladung folgt.
Wir sehen uns!
Einstweilen herzliche Grüße aus der
Hegenbarth Sammlung Berlin
Kunst auf Papier
Laubacher Straße 38
14197 Berlin
Telefon: (030) 2360 9999
E-Mail: programm@herr-hegenbarth-berlin.de
www.herr-hegenbarth-berlin.de
Newsletter nicht mehr erhalten: kündigen