Figuren in großer Landschaft
29. Mai — 25. September 2024
Ort:
Hegenbarth Sammlung Berlin
Laubacher Straße 38
14197 Berlin
Öffnungszeiten
Mittwochs 12—17 Uhr und nach Vereinbarung
An gesetzlichen Feiertagen geschlossen.
Bildlabor im Schaudepot
Bevor sich der Sommer dem Ende neigt, entführen wir Sie bis Ende September in die Bild-Landschaften der Hegenbarth Sammlung Berlin. Landschaftliche Figurenkompositionen bilden darin ein vielschichtiges Kapitel. Die Auswahl umfasst zehn Künstler mit Werken auf Papier und Tafelbildern aus dem Zeitraum von 1480 bis 2000.
Außerdem haben Sie Gelegenheit, den filmischen Ausführungen von Friedrich Weltzien zu folgen. In dem kurzweiligen Filmbeitrag spricht er über die künstlerischen Wechselbeziehungen zwischen Ernst Wilhelm Nays ‚Paar im Sund‘ und André Massons ‚La Tempête‘, beide Werke sind in der Ausstellung prominent zu sehen.
Die dramatisch-bewegten und ruhend-verinnerlichten Darstellungen präsentieren wir an den beiden Längswänden des Schaudepots als Synthese beider Pole. Der Wechsel von Miniatur- und Monumentalformaten sowie von historischen und zeitgenössischen Motiven rückt modellhaft wiederkehrende Interessen in den Blick: Landschaft als Handlungsrahmen, als Sinnbild der Schöpfung, als Projektionsraum für Sinnfragen und als Probebühne für strukturelle und kompositorische Entwicklungen.
So unterschiedlich die motivische Veranlassung ist, weisen zum Beispiel der Kupferstich von Albrecht Dürer, die Radierung von Caspar David Friedrich, das Pastell von Adolf Hölzel und die Mischtechnik von Isa Genzken verblüffende strukturelle und grafische Analogien auf, die unsere Sehgewohnheiten zwischen Abbildung, Abstraktion und gegenstandsloser Formfindung herausfordern. Wir laden Sie herzlich ein, diese und weitere spannende Vergleiche bis 25. September 2024 in Augenschein zu nehmen.
Die folgenden Kurzbeiträge zu den ausgestellten Künstlern sind im Uhrzeigersinn ihrer Hängung im Schaudepot aufgelistet:
Josef Hegenbarth (1884—1962) darf natürlich bei der Schilderung von Figuren im Raum nicht fehlen! Er war ein Meister darin, mit Tuschefeder ‚Jongleure‘ (1957) im leeren Bildraum zu zeichnen oder mit Leimfarben ‚Menschen vor Trümmern‘ (1946—48) als vollfarbige Figuren oder leere Konturen mit der Holzspitze des Pinsels oder mit der leeren Pinseltülle in den satten Leimfarbengrund zu kratzen. Nicht nur die Figuren wirken skriptural, auch die Trümmerlandschaft wirkt skizzenhaft wie hingekritzelt.
Das gegenüberliegende Werkensemble der Ausstellung im Schaudepot widmet sich auf dramatisch-bewegte Weise der Abstraktion. Das großformatige Papierwerk von Walter Stöhrer (1937—2000) vereint verschiedene Techniken und stilistische Mittel wie Zeichnung, Malerei, collagierte Radierung und Text. Stöhrer war ein prominenter Rebell der abstrakten Kunst in Deutschland der Nachkriegszeit und setzte sich dank seiner unkonventionellen Interpretation der Neuen Figuration in Verbindung mit Tachismus von den Zeitgenossen ab. Literarische Zitate und abstrakte Phrasen dienten oft als Ausgangspunkt seiner Werke. Die Textpassagen schrieb Stöhrer direkt in die Bilder hinein, um daraus eine formelle und assoziative Symbiose von Wort und Bild zu entwickeln. Auch im ausgestellten Werk ‚Noch nicht‘ von 1996 sind die titelgebenden Worte in der Mitte des Bildes platziert. Schnell verschmilzt die Handschrift mit Linien, Strichen und Schnörkeln der Zeichnung und verliert ihre Selbständigkeit. Aus dem expressiven Gekritzel entstehen Figuren, die wie Außerirdische oder gespenstische Gestalten aus Kinderzeichnungen anmuten und mit ihrer Simplizität und Direktheit provozieren und befremden. Die Figur als Motiv wird mehrfach wiederholt, geschichtet, gespiegelt und von exzentrischen, pastosen Farbgesten übermalt, wobei die Farbe im energiegeladenen Schwung alle Elemente des Bildes wieder miteinander verbindet. Die auf dieser Wand folgenden kleineren Bilder sind dazu passend arrangiert.
Das Gemälde ‚La Tempête‘ (1931) von André Masson (1896—1987) beleuchtet die Darstellung der Natur in der abstrakten Malerei von einer weiteren Seite. Masson gehörte in den 1920er Jahren zum Kreis der Surrealisten — er selbst bezeichnete sich jedoch als Rebell unter ihnen — und erkundete die Mittel des Kubismus und der ‚écriture automatique‘. Die Motive seiner Bilder wie Menschengestalten, Tiere, Metamorphosen und Kampfszenen sind häufig von Sexualität und Gewalt geprägt. In ‚La Tempête‘ begegnen wir hingegen der Gewalt und Ur-Kraft der Natur. Das Unwetter mit heftigen Windstößen offenbart sich in schwungvollen Pinselstrichen und dominiert die ganze Landschaft. Die Dynamik, die dabei im Bild entsteht, versetzt Bäume, Berge und Meeresküste in eine eigentümliche Bewegung, die an einen Tanzrhythmus erinnert und die Natur mitten im kraftvollen Sturm zum Leben erwachen lässt.
In der für Adolf Hölzel (1853—1934) charakteristischen Handschrift lebt die ‚Komposition (Figuren in großer Landschaft)‘ von einem dichten, kaleidoskopischen Nebeneinander der farbintensiven Flächen. Wenngleich es sich um eine Landschaft handelt, sind die Relationen im Raum umgekehrt und die Perspektive aufgehoben. Zum Teil lassen sich hinter den leuchtenden Farben und der samtigen Oberfläche Anspielungen an florale Elemente oder Figuren erkennen. Jedoch demonstriert das um 1925 entstandene Blatt vor allem die endgültige Ankunft Hölzels in der gegenstandslosen Malerei. In seinem Spätwerk gelangte er als Wegbereiter der Moderne zur ‚absoluten Kunst‘, in der das Primat der künstlerischen Mittel wie Farbe, Linie und Form herrscht. Auch von der musikalischen Harmonielehre und der Glasmalerei ließ sich Hölzel inspirieren. Die Gleichzeitigkeit der Farbtöne (Spektralfarben des Lichts) und die starke Konturierung der Farbflächen (Haltestege in der Fensterherstellung) schienen Hölzel schon vor der Ausführung der großen Glasfensteranlagen, wie zum Beispiel für die Pelikan-Werke zu Beginn der 1930er Jahre, beschäftigt zu haben (Vgl. auch Hölzel, HSB 8385, Gestisch-landschaftliche Komposition, 1920).
Eine ruhende, ja erhabene Kraft der Natur durchdringt das ‚Gemälde Paar am Sund‘ (1938) von Ernst Wilhelm Nay (1902—1986). Es zeigt eine gebirgige Landschaft mit zwei Menschen im Vordergrund. Sowohl das massive Berggestein und der dazwischen verborgene See als auch die menschlichen Gestalten sind mit klaren, akzentuierten Farbstrichen dargestellt. Der rhythmische Einklang der Farben und Formen ergibt eine idyllische Darstellung von Lebewesen und Natur. Das Werk gehört zu den sogenannten Lofoten-Bildern, die zwischen 1937 und 1939 entstanden und durch Nays Reise zu den norwegischen Lofoten-Inseln inspiriert wurden. Sein mythisches Interesse am Verhältnis von Mensch und Natur rückte damit in den Mittelpunt seiner Arbeit. Nay reduzierte die Figuren, ließ sie mit ihrer Umgebung immer stärker verschmelzen und konnte schließlich dank der raffinierten Abstraktion die harmonische Einheit zum Ausdruck bringen.
Beim Betreten des Schaudepots zieht die schwarze Objektinstallation Wolf Vostells (1932—1998) alle Aufmerksamkeit auf sich. In dem 100 × 130 × 12 cm großen Kasten hat Vostell eine Assemblage aus Objekten und collagierten Elementen zu einem Hamlet-Schauspiel arrangiert. Es besteht aus aufgeklebten Abbildungen von TV-Monitoren, einem gezeichneten toten Pferd, das kopfüber herabhängt und einer Kleinbildkamera der Marke Sternheil München, die oben rechts als ‚Kamera für Hamlet‘ ins Bild montiert wurde und mit handschriftlichen Anweisungen an verschiedenen Stellen versehen ist. In der Spielzeit 1978–1979 schuf Vostell für das Schauspiel Köln für die Hamlet-Inszenierung von Hansgünther Heyme das Bühnenbild und die Kostüme. Nach George Grosz‘ (1893—1959) Projektionsvorlage für Erwin Piscators 1926 aufgeführtem Stück ‚Das trunkene Schiff‘ und Josef Hegenbarths (1884—1962) zahlreichen Illustrationen für verschiedene Opern- und Theaterprogrammhefte zeigt die Hegenbarth Sammlung mit Vostells Objektkasten nun eine jüngere und dreidimensionale Bühnenbildillustration.
Die Leipziger Künstlerin Doris Ziegler (*1949) ist mit zwei monumentalen Gemälden vertreten, die 1988 entstanden sind: ‚Passage I‘ und ‚Passage II‘ Der Titel beider Bilder ist vielschichtig zu deuten, bezieht er sich sowohl auf die Leipziger Mädler-Passage, vor deren Kulisse das Gruppenbild arrangiert ist, als auch auf die wechselvolle Aufbruchs- und Übergangszeit um 1989. Mit dem Untertitel ‚Hommage à Watteau‘ kommt eine dritte Inhaltsebene hinzu, denn Zieglers Pierrot verweist damit auf einen berühmten Komödianten des 18. Jahrhunderts. Dessen lebensgroßes Porträt mit dem Titel ‚Pierrot, genannt Gilles‘, 1718/19 von Antoine Watteau (1684—1721) gemalt, ist im Louvre zu besichtigen. Ein weiterer Verweis führt zu Watteaus Miniaturgemälde ‚Pierrot content‘ (‚Zufriedener Pierrot‘, um 1712) in der Sammlung Thyssen-Bornemisza (Madrid). ‚Passage I‘ und ‚Passage II‘ wurden als Leihgaben der Hegenbarth Sammlung an die Kunstsammlungen Zwickau für die Einzelausstellung ‚In den Booten‘, anlässlich der Verleihung des Max Pechstein Ehrenpreises an Doris Ziegler 2023/24, zur Verfügung gestellt (Gastspiele).
Weitere Einblicke in Doris Zieglers Werk und die beiden Arbeiten erhalten Sie in der Nachlese der Hegenbarth Depesche N°95 — ICH bin DU! WHO is WHO? sowie bei der Lektüre des Aufsatzes von Ulrike Goeschen — beides stellen wir Ihnen beim Besuch der Ausstellung in unseren Sammlungsräumen gerne zur Verfügung.
Zwei weitere kleinformatige Papierarbeiten scheinen auf ganz verschiedene Weisen abstrahierte Aspekte von Zieglers Vielfigurenkompositionen aufzugreifen: Zum einem die in nächtliche Ferne entrückte Hochhaussilhouette als ‚Turmartiges Mosaik in Schwarz‘ (Collage-Tafel, um 1960) des Dresdener Künstlers Hermann Glöckner (1889—1987); und zum anderen die unbetitelte mischtechnische Zeichnung (1987) von Isa Genzken (*1948) aus dem Jahr 1987, die in die Zieglersche Gemäldestruktur hineinzoomt sein könnte.
Eine Reihe von historischen Drucken ergänzt die aktuelle Ausstellung: Albrecht Dürers (1471—1528) Kupferstich ‚Madonna mit der Birne‘ (1511) zählt als Einzelblatt zu den Darstellungen aus dem Marienleben. Maria sitzt in der Natur unter einem knorrigen Baum. Im Hintergrund ist eine massive Stadtmauer zu erkennen, auf deren Zinnen Wachposten zu entdecken sind. Maria hält auf ihrem Schoß den verträumt blickenden Jesusknaben, in ihrer linken Hand hält sie eine Birne. In der Darstellung dieses bekannten biblischen Motivs sucht Dürer offenbar nach neuen formalen Darstellungslösungen. Und er hat sie beeindruckend umgesetzt, wenn man sich die Lineatur des Himmels, die bewegten Linien des Baumes oder die Kreuzschraffuren des Gewandes genauer betrachtet. Strahlende Lichtpunkte werden durch das Freilassen der Druckplatte erzeugt, sodass diese Komposition des frühen 16. Jahrhunderts ungemein modern anmutet. Dagegen wirkt Martin Schongauers (1450—1491) Kupferstich ‚Madonna mit dem Apfel‘ (1477—80) noch moderner, da er auf einen anekdotisch erzählenden Hintergrund verzichtet und stattdessen die Madonna stehend mit Jesuskind auf dem Arm auf einem angedeuteten Rasenhügel vor leerem Hintergrund darstellt.
Auch Rembrandt (1606—1669) nutzte die Druckplatte, um verschiedene druckgrafische Lösungen zur Figur im Raum auszuprobieren. Auf dem Blatt betet ‚Der heilige Franziskus‘ als Schutzpatron für die Natur knieend vor einem Baum, hinter dem Jesus am Kreuz zu sehen ist. Aus dem mit Linien verdichteten Zentrum des Blattes, erschließt sich Rembrandt den weiteren Bildraum, der zum Blattrand hin immer skizzenhafter anmutet, so zum Beispiel die mit einer Kapuze verhüllte Figur, die neben Franziskus rechts im Mittelgrund als lesende Rückenfigur auszumachen ist. Im Unterschied zu Dürers und Schongauers Schilderung wirkt Rembrandts über 100 Jahre später entstandene Radierung expressiver und experimenteller.
Caspar David Friedrichs (1774—1840) Radierung ‚Weg zwischen Laubbäumen mit Staffage‘ (1800) zählt nicht nur zu den frühen Arbeiten sondern auch zu den raren Radierungen. Er nimmt die präzise gezeichneten Baumporträts nach 1800 in dieser Darstellung vorweg. Winzig klein nehmen sich die beiden Staffagefiguren am Fuß der opulenten Eichenbäume aus, die mittels kräftiger kurzer Linien in die Platte gegraben wurden. Dezent setzen sich die bewegten wellenförmigen Himmelslinien mit zartem Plattenton dagegen ab. Es lohnt sich diese Druckgrafiken, so verschiedenartig sie sind, genauer zu betrachten!