Herr Hegenbarth zeigt

Kelimddecke Kia Sar (Provinz Mazandaran, Nord-Iran), 1900—1925 (Detail), © HSB, 2023

Schaudepot als Probebühne

STOFFLICHT

23. November 2022 — 23. März 2023

Ort:

Hegenbarth Sammlung Berlin
Laubacher Straße 38
14197 Berlin

mittwochs 12—17 Uhr und nach Vereinbarung geöffnet,
geschlossen am 8. März (Feiertag) 


22. März 2023 um 19 Uhr (letzter Ausstellungstag):
Ethnologisches Kunstgespräch
Zusammenstellung oder Gegenüberstellung?
Impulse für die zeitgemäße Präsentation und Vermittlung von Kunstgegenständen aus unterschiedlichen Ländern


 

Im Zentrum dieser Präsentation im Schaudepot steht erstmals ein Kelim aus dem Norden Irans, der im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in Kia Sar, einem Ort am Kaspischen Meer in der heutigen Provinz Mazandaran, gewebt wurde. Dessen Farben, Nuancen und Strukturen bilden den Ausgangspunkt sich künstlerischen Arbei­ten aus Mitteleuropa zu nähern. Gleichsam geben die Zeichnungen, Malereien und Plastiken der hier ausgestellten 19 Künstlerinnen und Künstler ihrerseits Anlass über die offenen Bedeutungen in Kunstwerken zu reflektieren.

Dieser Kelim ist ein enigmatisches Objekt: Zusammengesetzt aus zwei Teilen, gemustert mit warmen, leuchtenden Farbübergängen, die horizontal angeordnet sind, verführt er zu Deutungen, die über die reine Stofflichkeit hinausgehen. Kelims wurden als private Gebetsteppiche verwendet oder zum häuslichen Gebrauch — beides liegt nah beieinander. Sie fanden Anwendung als Zeltwände, Wandbehänge, in Taschen und zum Einschlagen schützenswerter Dinge wie frisch gewaschener Textilien. Bis heute werden Kia Sar-Kelim-inspirierte Textilien für Dekorationszwecke hergestellt. Es sind Flachgewebearten, und sie lassen sich sprachlich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Webstoffe sind aber schon in der Antike als Kulturgegenstände bekannt. In Mitteleuropa wurden Kelims seit Ende des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Museen gesammelt. Die Hegenbarth Sammlung Berlin verfügt über einen Bestand von 20 zeichenhaften Textilien aus dem westasiatischen Raum mit authentischer Bedeutung.

Von der Technik des Webens zur Bedeutung des Musters

Im traditionellen Kelim finden sich kleinteilig geometrische Muster. Der hier gezeigte unterscheidet sich merklich: Das Muster ist horizontal ausgerichtet. Die oberen und unteren Ränder sind von einem breiten rötlichen Braunton, in der mittleren Zone alternieren sandfarbene, rötliche und blaue Streifen, die sechs Felder mit Farbverläufen umschließen.

Die für Gebetsteppiche üblichen Musterdetails, um sie nach Mekka zu richten, fehlen hier, ebenso die beim herrschaftlichen Kelim oftmals opulente Ornamen­tierung. Die schmalen Gewebe lassen hingegen einen nomadischen Ursprung vermuten, da deren Webstöcke von kleinem Format und leicht zu transportieren waren. Die zwei Bahnen wurden nach dem Weben zusammen­genäht. Denkbar ist also ein eher häuslicher Nutzen dieses Kelims. Jedoch können die Farben auch religiös interpretiert werden. Farbe ist nach mystischen Auffassungen im Islam die Körperlichkeit des Lichtes, das Licht aber die Spiritualität der Farbe. Die fünf dominanten Farbtöne einer Verlaufsreihe könnten die fünf Gebete, die täglich aus­geübt werden sollen, versinnbildlichen. Braun steht im islamischen Kontext für Friede und Reinheit, Türkisblau wiederum gilt als Schutzfarbe gegen den ›bösen Blick‹. Aber vielleicht stehen die Blautöne auch nur für das Himmelszelt, die Gelb- bis Rotfarben für die Sonne. Die Verläufe gemahnen eventuell an den Lauf der Zeit, wie zum Beispiel der Jahres- oder Tageszeiten.

Stoffliche Bildwelten von der Moderne
bis zur abstrakten Kunst

Gewebe sind in der Moderne eine wichtige Kunstform: Für John Ruskin dürften sie das Primat des Handwerklichen versinnbildlicht haben. Überhaupt verweben sich die verschiedenen künstlerischen Gestaltungsformen wieder zunehmend. Rupprecht Geiger (1908—2009), das Ehepaar Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff (1923—2011 / 1921—2020) und Oskar Schlemmer (1888—1943) waren in mehr als nur einer Disziplin tätig. Die junge Künstlerin Anna Slobodnik (1990) wiederum greift als künstlerisches Format oft auf den Wandbehang als Bildträger zurück. Edouard Baribeaud (1984) zeichnet detailreich die Stofflichkeit seiner Bildwelten.

Insbesondere die detailreiche Zeichnung ›Lampenfieber‹ (2019) von Edouard Baribeaud stellt in grafisch prägnanter Weise die Muster von Teppichen und Wand­behängen heraus und zueinander in Beziehung. Die darin eingebetteten Figuren sind räumlich gleichwertig. Die visuelle Inszenierung unterliegt den akzen­tu­ieren­den Linien und Schraffuren. In seinem Bild zitiert Baribeaud ein Design von Willi Baumeister (1889—1955) für die Bühnenausstattung zum Theater­stück ›Monte Cassino‹ von Egon Vietta (1949). Baumeisters organische Abstraktion, ›Ideogramm auf Grün (Durchbrochener Kreis)‹ (1947), ist wiederum in der Ausstellung zu sehen. Dunkel setzen sich die Formen vom grünen Hintergrund ab. Die Form ist offen: eine Bedeutung scheint der Titel zwar zu suggerieren, aber was das Ideogramm inhaltlich bezeichnet, lässt sich nicht fassen. Oskar Schlemmers ›Studie zum Pinsel­prüfenden‹ (1941) hingegen spiegelt die Farben des Kelims. Die menschlichen Anatomien, die den organisch verlaufenden Farbfeldern als Vorlage dienten, sind jedoch auch hier kaum identifizierbar. Reduziert auf einen Farbverlauf von Rot nach Gelb ist die Zeichnung ›o.T.‹ (1972) von Rupprecht Geiger: Das Gelb strahlt. Ein Spalt in der Bildmitte ist mit leuchtfarbenen Strichelungen ausgefüllt. Die Horizontale suggeriert Landschaft — der Künstler war von den ukrainischen Land­schaften, die er als Soldat in den Kriegsjahren erlebte, stark beeindruckt. Auch der Kelim akzentuiert die Horizontalen, staffelt sie jedoch in ornamentalen Schich­ten. Der minimalistische Farbverlauf von Rupprecht Geiger findet sein Gegenstück in der kräftig umrissenen Abstraktion von Adolf Hölzel (1853—1934). Anders als in Edouard Baribeauds an die Ligne claire erinnernden sauber umschlossenen Formen, spricht in Hölzels ›Abstraktes Stilleben‹ (1920) ein expressiv anmutender Gestus.

Die in der Geschichte der Abstraktion zunehmende Konkretisierung von einer metaphysischen Abstraktion (eine Vorstellung hinter dem Bild) hin zu einer auf sich selbst verweisenden Abstraktion lässt sich in den Arbeiten der übrigen Künstler nachvollziehen: vom impressionistisch anmutenden Christian Rohlfs (1849—1938) und dem Pop-Art-Vertreter Werner Berges (1941—2017) bis zu den Materialabstraktionen von Karl Fred Dahmen (1917—1981) und Gerhard Hoehme (1920—1989), den organischen Bildelementen von Wolfgang Paalen (1905—1959), dem surrealen Realismus bei Richard Oelze (1900—1980), den figurbezogenen Splittern von Peter Brüning (1929—1970) und Adolf Fleischmann (1892—1968), den Monotypien von Willy Wolff (1905—1985) und dem konkreten Minimalisten Sigurd Rompza (1945).


 

Sich auflösende Konturen bei Josef Hegenbarth

In Dresden sammelte das Völkerkundemuseum ebenfalls Kelims, wo Josef Hegen­barth (1884—1962) bei seinen Museumsstreifzügen vielleicht mit ihnen in Berührung kam. Belege dafür gibt es nicht, jedoch befinden sich im Nachlass Hegenbarths mehrere ostasiatische Objekte, die ihm nachweislich als Anregung für seine eigenen Arbeiten dienten. Auch ostasiatische Maltechniken fanden immer wieder Eingang in seinen Arbeiten, sodass sich häufig gegenständliche Konturen in Auflösung begriffen. So auch in den beiden Leimfarbenzeichnungen ›Trümmer­arbeiten‹ (Ende der 1940er Jahre) und ›Tiger‹ von 1932. In der älteren Arbeit zeigt Hegenbarth einen ruhenden Tiger im Zoogehege. Wie auch bei anderen vergleich­baren Zoodarstellungen scheinen die Gitterstäbe überwunden und der Bildbetrachter kommt der Raubkatze gefährlich nahe. Eine wirkliche Gefahr scheint jedoch nicht mehr von dieser auszugehen, denn das gestreifte Fell des Tieres erinnert eher an einen schmal zusammengefalteten Teppich.


 

Die ausgestellten Künstler und Künstlerinnen

Willi Baumeister (1889—1955)
Edouard Baribeaud (1984)
Werner Berges (1941—2017)
Peter Brüning (1929—1970)
Karl Fred Dahmen (1917—1981)
Adolf Fleischmann (1892—1968)
Rupprecht Geiger (1908—2009)
Josef Hegenbarth (1884—1962)
Adolf Hölzel (1853—1934)
Gerhard Hoehme (1920—1989)
Matschinsky-Denninghoff (1921—2020 / 1923—2011)
Richard Oelze (1900—1980)
Wolfgang Paalen (1905—1959)
Christian Rohlfs (1849—1938)
Sigurd Rompza (1945)
Oskar Schlemmer (1888—1943)
Anna Slobodnik (1990)
Willy Wolff (1905—1985)

Stofflicht, Installationsansicht im Schaudepot der Hegenbarth Sammlung Berlin
Edouard Baribeaud (*1984), Lampenfieber, Aquarell, Tinte, Goldblatt auf Papier, 765 × 695 mm (Detail), © HSB / Edouard Baribeaud, 2023
Christian Rohlfs, Krug mit Wollblumen, 1934, Wassertempera auf Papier, 512 × 666 mm, © HSB 2023
Adolf Richard Hölzel, (links), Tuschenetz, Mischtechnik auf rosa Papier, 223 × 144 mm
Abstraktes Stilleben, 1920, Mischtechnik auf Papier, 325 × 210 mm (rechts), © HSB 2023
Kelimddecke Kia Sar (Provinz Mazandaran, Nord-Iran), 1900—1925, Flachgewebe Wolle auf Wolle, 2310 × 1200 mm, © HSB, 2023
Oskar Schlemmer, Studie zum Pinselprüfenden, 1941, Öl auf Karton, 255 × 200 mm, © HSB 2023

Begleitpublikationen

Zu früheren Ausstellungen der Hegenbarth Sammlung sind bibliophile Begleitbücher, Schreibhefte und Postkarten erschienen. Eine Übersicht finden Sie unter Publikationen. Sie können diese direkt in der Hegenbarth Sammlung erwerben oder per Mail bestellen.

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